Artgerechte Kinderhaltung
Das Artgerecht®-Projekt wurde begründet von Nicola Schmidt, Herausgeberin der Bücher „Das artgerecht-Babybuch“, „ Das artgerecht Kleinkind-Buch“, „ Erziehen ohne Schimpfen“, „ Der Elternkompass “ und weiteren Büchern, die auch den wissenschaftlichen Hintergrund zu Bedürfnissen von Kindern und Babies sowie deren artgerechten Begleitung beleuchten.
Die Frage dahinter ist: „Was ist eine artgerechte Kinderhaltung?“. So schrecklich dieses Wort tönt, finde ich es persönlich umso erschreckender, dass wir uns zwar fragen, was die artgerechte Haltung von Tieren ist (was ich enorm wichtig finde), dass wir uns das aber bei unseren eigenen Kindern nicht fragen.
Wir Menschen haben noch immer den Körper, die Reflexe und die Verschaltungen von Menschen, die noch als Sammler und Jäger gelebt haben. So auch unsere Kinder. Eine artgerechte Kinderbegleitung berücksichtigt diese Information – so gehen wir beispielsweise davon aus:
- dass es für Kinder gefährlich ist, grünes Zeugs zu essen das noch dazu ungewöhnlich riecht, weil es giftig sein könnte
- dass ein Säugling Nähe und Geborgenheit braucht und getragen werden möchte, weil er sonst in der Natur zu vielen Gefahren ausgesetzt wäre
- dass die stetige und jederzeitige Verfügbarkeit von Nahrung nicht immer gegeben war und unser Kinder darauf getrimmt sind, das zu essen, was am meisten Energie hat (beispielsweise Zucker)
- dass Babies ab Geburt sich und ihre Versorger nicht selber beschmutzen wollen und deswegen ihre Ausscheidungsbedürfnisse genauso kommunizieren wie Hunger, das Bedürfnis nach Schlaf, zu kalt/heiss, so dass alle – Baby und Versorger – trotz fehlender Windel nicht Gefahr laufen, aufgrund der Exkremente von wilden Tieren gerochen zu werden
- dass das Herumgestochere im Mund mit diesem komischen Stab mit Borsten eine ziemlich doofe und neuartige Erfahrung ist, weil kariesverursachende Nahrungsmittel nicht immer so umfangreich vorhanden waren
- dass am Tag die Sonne scheint und es in der Nacht dunkel ist.
- Das wir in einer Sippe gelebt haben wo mehrere Allo-Parents der Kindern soziale Regeln vorgelebt haben.
- Empathie eine Errungenschaft von unserem wohlwollenden Miteinander ist und nicht von Anfang auf unserer Hardware verfügbar ist.
Im Artgerecht®-Ansatz geht es darum, diese Information im modernen Alltag zu berücksichtigen und zwar beispielsweise so:
- Bei manchen Kindern geht Grünzeugs essen nur durch langsames herantasten: „Ah, meine Sippe isst das auch und stirbt nicht. Aaah, ich kann das in den Mund stecken und bekomme keinen Bauchkrampf.“
- Wie trage ich mein Baby und versorge es alleine, wenn ich von Natur aus nicht dafür gemacht bin, gleichzeitig noch einen Haushalt zu schmeissen oder Versorgungsaufgaben zu übernehmen?
- Wie lernen unsere Kinder einen gesunden Umgang mit Süssen entgegen ihrem natürlichen Instinkt?
- Wie setzte ich windelfrei um in unserer Welt mit öVs, Autos und Orten, wo man nicht grad einfach so hinpinkeln kann? Wie kommt ein Kleinkind aus der Windel, nachdem die Superabsorber-Windel ihm die Wahrnehmung der Ausscheidungen und dadurch die Kontrolle des Schliessmuskels abtrainiert hat?
- Zähneputzstreiks sind natürlich. Wenn Blödsinn machen, die Zahnputzuhr mit Musik, Machtumkehrspiele und Autonomiebedürfnis-Zulasssung in allen anderen Situationen des Alltags gar nicht mehr hilft, dann den Streik zulassen und dafür Zucker und Weissmehl einschränken.
- Zubettgehen ist schwierig, wenn den ganzen Tag über eine grosse Menge an blauem Licht vorhanden ist und wenn der Übergang in den Abend nicht mit einem Sonnenuntergang natürlich das Melatonin anregt. Und alleine Schlafen in der Dunkelheit, wenn die Nachttiere aktiv sind, ist sowieso ein Todesurteil. Welcher Tagesablauf und welche Rituale und Sicherheiten helfen meinem Kind, das Melatonin so anzuregen und sich so zu entspannen, dass wir einen guten Kompromiss finden, der auch mein Schlaf- und Partnerschaftsbedürfnis berücksichtigt?
- Anthropologische Studien zu Völkern die noch wenig Kontakt zu unserer angeblich modernen Welt haben zeigen, dass es die Aufgabe von Allo-Parents ist, soziale Reglen beizubringen. Die Aufgabe von Eltern ist es lediglich, zu beschützen, füttern und zu trösten. Heute jedoch wird von Eltern vielfach erwartet, auch perfekt funktionierte Kinder (keine Streits, super höflich, immer hilfsbereit und mit gesundem Respekt vor Erwachsenen) zu produzieren, und das notabene in einem Umfeld, wo Stress, finanzielle Herausforderung, reduzierter Sozialkontakt prävalent sind — und wo die Verbindung und Beziehung zu unseren Kindern schwindet unter den Anforderung von Schule und Arbeit. Wie finden wir in diesem Gewusel die Anbindung an uns selbst, so dass wir die Verbindung zu dem schaffen, was wirklich wichtig ist, so dass unsere Kinder uns so erleben können, wie sie uns brauchen: Beschützend, nährend und tröstend … und sodass sie ein Umfeld haben, in welchem sie so gehalten sind, dass sie liebend gerne dessen soziale Regeln annehmen?
- Streiten will gelernt sein. Die meisten Erwachsenen können es nicht. Auch zuhören, halten und „einfach mal aufs Maul hocken und nicht die eigene Geschichte erzählen“ ist ein Skill, den nicht viele können. Unsere Kinder lernen es dann, wenn sie es von Erwachsenen vorgelebt bekommen. Sie lernen es nicht durch Vorgaben oder Bücher. Sondern durch nachmachen. Sprich jemand muss es vormachen und transparent machen und in der konkreten Anwendung aktiv lehren. Dafür brauchts die Streits. Und die Emotionsausbrüche. — und unsere Auseinandersetzung mit uns selbst und dass wir selbst lernen, die linke und die rechte Hirnhälfte zu vernetzen und das Grosshirn auch dann zu benutzen, wenn das Reptilienhirn in den Autopilot gehen will.