Authentische Sexualität
Unsere Sexualität ist oft ein Spiegel unserer tiefsten Muster und Prägungen. Gerade weil Sexualität von so vielen Tabus umgeben ist, haben wir häufig verlernt, wirklich zu spüren, was unser Körper, unsere Seele und unser Geist sich im innigsten Kontakt mit anderen Menschen wünschen. Stattdessen tragen wir unbewusste Konditionierungen mit uns, die uns von unserer authentischen Sexualität entfernen.
Ein zentrales Thema dabei ist das sogenannte „Genital Hole“ – ein inneres Vakuum, das entsteht, wenn wir uns von unseren lustvollsten und zugleich verletzlichsten Körperregionen, sowohl physisch als auch emotional, entfremden. Dieses Vakuum existiert nicht nur individuell, sondern auch kollektiv. Als Gesellschaft wissen wir oft mehr über das Paarungsverhalten von Hirschen oder die Fortpflanzung von Kühen als über die Sexualität der Bonobos – einer Spezies, die genetisch unsere nächsten Verwandten ist.
Noch weniger wissen wir über die ursprünglichen, menschlichen Bedürfnisse unserer eigenen Spezies. Wir hinterfragen selten, wie unser Leben aussehen würde, wenn wir nicht von Tabus, Regeln und Scham geprägt wären, sondern auf die Weisheit unseres Körpers vertrauen könnten. Was bedeutet es, eine menschengerechte, natürliche Sexualität zu leben?
Eine noch tiefere Frage lautet: Was ist meine ganz persönliche, authentische Sexualität? Eine Sexualität, die mich mit mir selbst verbindet, die selbstliebend und selbstwertschätzend ist – und gleichzeitig voller Empathie und Verbindung zu anderen. Viele von uns haben im Laufe ihres Lebens verlernt, ihre Gefühle, Bedürfnisse und ihr wahres Ich zu spüren, besonders in Beziehungen. Häufig opfern wir unsere Authentizität, um Verbindung zu schaffen – oder das, was wir dafür halten.
Doch genau diese Authentizität in unseren verletzlichsten Momenten zurückzugewinnen, verleiht uns eine außergewöhnliche Stärke. Es ist eine Art Superkraft, die sich auf alle anderen Lebensbereiche auswirkt. Und das Beste daran? Es macht unglaublich viel Freude, diese Kraft in der Sexualität zu entdecken – oft sogar mehr, als es jede Therapie je könnte.
Was ist eine menschengerechte Sexualität?
Hier einige biologische und antropologische Fakten als Teaser um die Gedanken anzuregen:
Mehr gefällig? Ich empfehle die Bücher “Sex – die wahre Geschichte“ von Christopher Ryan und Cacilda Jethá, „Orgasm Unleashed“ von Eyal Matsliah oder die umfangreiche Literatur aus der Tantra-Welt und darüber, was Extase sein kann. Weiter sei auf den Klassiker „The Ethical Slut“ von Janet W. Hardy und Dossie Easton verwiesen… oder auch „Mother Nature“ von Sarah Blaffer-Hrdy.
Authentizität, Sicherheit und Bindung
Ja ich gebe es zu, einige der oben genannten Fakten sind bewusst gewählt, um unser Verständnis von Beziehungen zu hinterfragen – speziell die Frage, ob wir als Menschen wirklich monogam oder seriell monogam sind. Doch bevor diese Gedanken als Freibrief für – entschuldige den Ausdruck – hemmungsloses „Rumgevögel“ missverstanden werden, möchte ich zusätzlich auf das Buch „Polysecure“ von Jessica Fern verweisen. Denn die Prinzipien von Sicherheit, Bindung, Vertrauen, Transparenz und Kommunikation, die in monogamen Beziehungen essenziell sind, können ebenso – respektive müssen noch viel mehr – die Grundlage für Beziehungen mit mehreren Partnern bilden.
Aus meiner Erfahrung – sowohl persönlich als auch beruflich – weiss ich, dass es möglich ist, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse auf eine Weise zu kommunizieren und auszuleben, die niemanden verletzt, sondern alle Beteiligten bereichert. Beziehungen können geöffnet werden, ohne dass Seitensprünge als Vertrauensbruch empfunden werden müssen. Stattdessen können sie in Elemente von Vertrauen und tiefer Verbundenheit transformiert werden – selbst wenn die Ausgangssituation schwierig erscheint.
Es ist möglich, scheinbar gegensätzliche Bedürfnisse wie Freiheit und Sicherheit in einer Beziehung miteinander in Einklang zu bringen. Es ist ebenso möglich, individuelle sexuelle Vorlieben auszuleben, selbst wenn beide Partner nicht die gleichen Wünsche teilen.
All dies erfordert jedoch eine tiefgehende Auseinandersetzung mit sich selbst – ein echtes Verstehen und Vertrauen in die Authentizität der eigenen Bedürfnisse, sowohl emotional als auch körperlich. Zudem ist es unerlässlich, empathische Kommunikation zu erlernen und die Fähigkeit zu entwickeln, das Gegenüber in seiner Ganzheit zu erkennen und anzunehmen.
Dieser Weg mag zunächst herausfordernd erscheinen, aber er führt zu Freiheit, Größe und der Entfaltung der eigenen Lebenskraft.
Ich empfinde es als grosse Bereicherung, Menschen und Partnerschaften auf ihrer Reise zu begleiten – hin zu ihrer ganz persönlichen Wahrheit und dem für sie stimmigen Beziehungsmodell.
Sexualität – Authentizität geht auch in Verbindung.
Und Authentizität im Bett (oder wo auch immer) zu lernen ist lustiger als Therapie beim Psychologen.
„Selbstliebe: Masturbation. Ja, das mache ich stundenlang. Ich spiele mit mir und zeige mir selbst, wie wertvoll ich bin.“
Wer kann das von sich sagen? Oder das:
- „Selbstliebe: Ich übergehe meine Grenzen nicht, auch nicht, um in Verbindung mit jemandem zu sein oder zu bleiben.“
- „Selbstliebe: Ich weiss, ich bekomme meine Bedürfnisse erfüllt und muss dafür nicht die Grenzen von jemand anderem übergehen.“
- „Selbstliebe: Ich wage auszusprechen, was mir wichtig ist.“
Viele von uns können das nicht. Warum? Weil wir es verlernt haben.
Schauen wir uns Babys an: Sie spielen mit sich selbst, entdecken jeden Körperteil – Arme, Beine, Zehen, Genitalien. Sie plappern, sabbern und es ist ihnen völlig egal, was andere denken. Babys kommunizieren all ihre Bedürfnisse, ohne Scham oder Zurückhaltung. Sie gehen davon aus, dass sie wertvoll genug sind, diese erfüllt zu bekommen.
Und wir Erwachsenen? Wir können das oft nicht mehr.
Ein Modell, um diesen Verlernungsprozess zu erklären, beruht auf unseren beiden Hauptbedürfnissen: Authentizität und Verbindung. Das Bedürfnis, unser wahres Ich zu leben, und das Bedürfnis, mit anderen verbunden zu sein. Als Kind ist Verbindung essenziell. Ohne die Verbindung zu unseren Bezugspersonen hätten wir nicht überlebt – kein Essen, kein Schutz, keine Liebe.
Wenn bei einem Kind das Bedürfnis nach Authentizität wiederholt in Konflikt mit dem Bedürfnis nach Verbindung gerät, entscheidet es sich für die Verbindung. Authentizität scheint in diesen Momenten weniger überlebenswichtig. Es lernt:
- Still zu sein, obwohl es eigentlich lauthals singend Slalom mit dem Fahrrad fahren will, weil ein Erwachsener das nicht möchte.
- Seine Gefühle nicht zu zeigen, obwohl es wütend ist, weil diese Wut von Erwachsenen nicht ausgehalten werden kann.
- Die Oma höflich anzulächeln, obwohl es ihr eigentlich sagen möchte, dass sie stinkt, weil die Eltern Respekt vor den Grosseltern fordern.
Und später? Wie soll ich meinem Liebsten sagen, was ich wirklich will? Ich darf meiner Nase nicht trauen, die sagt, dass Oma stinkt. Ich darf meinen Gefühlen nicht vertrauen, die mir meine Grenzen aufzeigen. Und ich darf meiner Stimme keinen Raum geben, um Freude auszudrücken.
Die gute Nachricht: Unser Körper kann das alles noch immer! Wenn wir lernen, uns nackt und in totaler Entspannung – mit zu 100 % aktiviertem Parasympathikus – vor einem Liebsten auszudrücken, dann können wir es überall: Stehend, bekleidet, im Konferenzraum oder vor einem Businesspartner.
Deshalb ist Sex-Therapie so effizient. Und ja, es macht mehr Spass als beim Psychologen. Und es ist viel einfacher, dran zu bleiben.
Sexualkraft = Lebenskraft
Deshalb ist eine freie, authentische, volle und in empathischer Verbindung gelebte Sexualität eine echte Lebenskraft. Da alleine ist schon eine Superpower.
Aber es geht noch weiter: Sexualität kann Gebet sein, sie kann heilen, sie kann manifestieren, sie kann befruchten und gebären. Sie kann Ekstase sein. Die Verbindung zum Grossen Ganzen, das in uns und unserem Gegenüber ist.
Diese Kraft zu leben, ist magisch. Und diese Magie hat jeder, jede und jedmensch in sich. Auch du.